Montag, 22. Januar 2007

Umarmen bis zur Entspannung, "Festhalten und loslassen"

Was bedeutet "Umarmen bis zur Entspannung"?
Was festigt unsere Beziehungen? Was festigt seine eigene Beziehung? Eine These lautet: "Wer seinen Partner richtig in den Arm nimmt, festigt seine Beziehung und fängt sich selbst auf."

Dieser folgende ausschnittsweise widergegebene Text stammt vom Mitarbeiter des 'Mannheimer Morgen' Roland Mischke): "Sich gegenseitig zu umarmen, ist heute selbstverständlich. Verwandte und Freunde tun es zur Begrüßung. Selbst Männer haben keine Sorge mehr, als schwul zu gelten, wenn sie einen Freund in den Arm nehmen. Nur Halbwüchsige in noch frühem Alter, die gerade ihre Körperlichkeit kennen lernen, werden für einige Zeit zu steifen "Besenstielen".
Der US-amerikanische Psychologe David Schnarch (sprich: Snorch) hat sämtliche Formen des Nahkontakts studiert und festgestellt: "Die Sprache der Umarmungen ist erstaunlich vielgestaltig". Das zärtlichste In-die-Arme-Nehmen erwartet man bei Paaren. Doch Paartherapeut Schnarch hat gerade bei Menschen, die in Liebe verbunden sind, größte Unterschiede festgestellt. "Es ist zweifellos möglich - und üblich - sich zu umarmen, ohne emotionalen Kontakt zueinander aufzunehmen", schreibt er. Zum Beispiel in der Vorbeugehaltung, bei der die Schultern sich berühren, nicht aber Bäuche und Hüften. Manchmal macht ein Partner sich steif, weil er mit seinen Gedanken gerade woanders oder verstimmt ist. Offenkundig geht es vielen Paaren darum, dass die Partner bei der Umarmung nichts spüren wollen. Das deutet darauf hin, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt. "Gabi" und "Axel" leben seit 14 Jahren zusammen, sie haben zwei Kinder, anstrengende Berufe und wenig Zeit füreinander. Am Wochenende, wenn Haushalt, Gartenarbeit und alles, was sonst noch anliegt, erledigt ist, soll alles harmonisch sein. Wenn sie sich dann näher kommen wollen, ist oft Befangenheit da. "Eigentlich haben wir Angst davor, miteinander ins Bett zu gehen", hat Gabi erkannt. "Unser Sex ist mechanisch geworden, er hat keine Leidenschaft mehr." Und das, obwohl beide sogar Interesse an mehr Sex hätten. "Aber uns fehlt die innere Übereinstimmung", sagt Axel. "Wir tun es, weil es zur Ehe gehört." Laut David Schnarch ein weit verbreitetes Phänomen. Zwei Menschen lieben sich, können aber nicht so recht zueinander kommen. Das liegt hauptsächlich daran, dass beide die Woche über ganz stark bei sich sind und der Partner nur als Folie des Lebens vorhanden ist. Das führt zu einem Schuldgefühl, dieses verlangt nach Auflösung - und dann soll alles stimmig sein, wenn mal Zeit ist für einander. Pflichterotik und eheliche Pflichterfüllung sind aber nicht sehr begeisternd. Es fehlt Axel und Gabi an Gesprächen, Berührungen im Alltag, an kleinen Gesten der Verbundenheit, an einer Vertiefung der Zusammengehörigkeit. Sie haben sich in eine Entfremdung hineinmanövriert. Und wer einmal in der Sackgasse steckte, weiß, dass es schwierig ist, herauszukommen. David Schnarch betreut in seiner Praxis laufend solche Paare. Als erstes empfiehlt er: "Sie könnten zunächst einmal versuchen, sich selbst zu spüren." Die Angst, die sich eingestellt hat, das Gefühl des Ungenügens, die Unzufriedenheit lassen sich nur mit einer guten Strategie überwinden. Und die setzt bei sich selbst an. Dass bei Menschen, die sich seit Jahren nackt begegnen und glauben, alles voneinander zu wissen, in der schlichten Umarmung noch ungeahnte Emotionen in Bewegung geraten, erscheint unwahrscheinlich. Ist aber so. Nicht in der sexuellen Vereinigung, sondern in der stillen Umarmung wird spürbar, wie groß Nähe und Distanz sind. Themen und Konflikte der Partnerschaft werden im engen Beieinanderstehen ganz aktuell. Sex ist Trieb, Umarmung Erotik. Die richtige gute Umarmung löst den Körperpanzer, den wir alle mit uns tragen, um uns zu schützen. Denn im Alltag gibt es Anspannung, uns wird viel abverlangt, wir müssen uns täglich bewähren. Die Umarmung hat das Ziel, den Körper zu entlasten, zu entspannen. "Erst wenn wir das Niveau unserer Grundanspannung unterschreiten, merken wir im Rückblick, wie angestrengt wir waren", schreibt David Schnarch. Das ist genau die Erfahrung, die Gabi und Axel dringend benötigten. Sich umarmen, sich halten, die Anspannung abbauen und dabei in eine tiefe Ruhe hinüber gleiten, das heißt vor allem, sich selbst aufzufangen. Nur wer sich nach innen wendet und auf die eigenen Stärken besinnt, ins Gleichgewicht findet und sich im eigenen Körper wohl fühlt, öffnet sich für seine/n Partner/in. "Wenn wir im unmittelbaren emotionalen Kontakt mit unserem Partner fähig sind, uns selbst Halt zu geben", sagt David Schnarch, "ist das keine Ich-Sucht. Im Differenzierungsprozess lernen wir, die Spannung auszuhalten, die dadurch entsteht, dass wir den Partner als ein von uns getrenntes Individuum mit eigenen Vorlieben, Bedürfnissen und Zielen anerkennen." Die Chance für Axel und Gabi und alle Paare, die wirklich Nähe suchen. "Festhalten und loslassen", sagt Schnarch. Wer seinen Partner packt und ihn nicht mehr loslässt, muss sich nämlich nicht mit sich selbst auseinandersetzen und vergibt eine Chance. Wer die Umarmung bis zur Entspannung wagt, erreicht eine neue Tiefe in der Beziehung. Das ist ein langer Weg, aber jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Quelle: Mannheimer Morgen, 10. Oktober 2006
Link: http://www.morgenweb.de/ratgeber/geld_und_karriere/20061010_b020821001_22806.html
Mehr zu David Schnarch:
Link: http://www.welt.de/data/2006/07/14/959591.html

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